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Geschichtsweg Ostheim

Geschichtsweg-Ostheim


Stadtteil Ostheim

Zur Geschichte Ostheims

(Der Text wurde erstellt vom Heimat- und Geschichtsverein Ostheim)


EIN BAUERN-, HANDWERKER- UND ARBEITERDORF IM WANDEL DER ZEIT

Ostheim war über tausend Jahre ein Bauern- und Handwerkerdorf. Es war – wie jedes Dorf – bis  ins 20. Jahrhundert ein geschlossener Kosmos für sich mit agrar-patriarchalischer Gesellschaftsstruktur. Das Hanauer Adressbuch von 1906 sagt uns, dass im Jahr 1906 in Ostheim 1212 Personen lebten: Groß- und Kleinbauern, Handwerker und Tagelöhner. Im 20. Jahrhundert hat sich die dörfliche Gesellschaft rasend schnell aus einer Monopol-Agrargesellschaft in eine multikulturelle Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Heute leben in unserem Dorf, fast 5 Tausend Einwohner in einem offenen und vielfältigen Gesellschaftsverbund. Das alte, patriarchalisch geordnete Bauerndorf gibt es nicht mehr, das Dorf lebt aber weiter in neuer Form und wird sich weiterhin stets wandeln.

 

VON PFERDE-, KUH- UND ZIEGENBAUERN

Im Jahre 1906 gab es in Ostheim 241 Häuser. Von ihnen wurden 147 landwirtschaftlich und/oder handwerklich genutzt. Das Dorf lebte fast autark. Die Leistungskraft des von einer Bauernfamilie geführten landwirtschaftlichen Betriebes, die Anzahl und Lage der Äcker waren die Grundlage für die Einteilung der Dorfbevölkerung in „Gesellschaftsschichten“.

Wer viel Acker- und Wiesenland besaß, der hatte genug Geld für den Erwerb von Pferden und Ochsen als Zugtiere für Feld- und Waldarbeit. In Ostheim hießen die Pferde- und Ochsenbauern die „Gäulsbauern“. Sie führten Vollerwerbsbetriebe und waren die Führungsschicht im Dorf. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sie die „Traktorbauern“ genannt. Redensarten zum Lebensstandard der Gäulsbauern waren: „Der Gäulsbauer hat Backen wie ein Hamster. Der Gäulsbauer schmiert die Butter wie Lehm.“

Wer weniger Land besaß, konnte sich nur Kühe als Arbeitstiere leisten, selten ein Pferd dazu. Das war der „Keubauer“. Vom Ertrag seiner Landwirtschaft allein konnte er kaum leben und ging deshalb im Winter und in der Nebensaison einem Zuerwerb nach.

Es gab große und kleine „Keubauern“. Die Kuh gab als Zug- und Arbeitstier natürlich weniger Milch. Das schmälerte den Lebensunterhalt. Mancher kleine Kuhbauer war und blieb sehr arm. Für ihn galt das Sprichwort: „Ein Acker und eine Kuh decken viel Armut zu.“

Wer nur einige wenige, kleine Äcker besaß, konnte sich auch nur eine oder zwei Arbeitskühe oder auch nur ein paar Ziegen leisten. Das waren die Ziegenbauern, in Ostheim die „Gaastebauern“ genannt.

Für den Lebensunterhalt gingen sie einer Tätigkeit außerhalb der Landwirtschaft nach, als Tagelöhner oder ungelernte Arbeiter. Sie bildeten im Dorf die Unterschicht. Ein Aufstieg in der traditionsbewussten Dorfhierarchie war ausgeschlossen. Heiraten zwischen den Gesellschaftsschichten waren unerwünscht. Dazu die Redensarten: „Ochs und Gaast sind ein schlechtes Gespann. Wer sich unter die Kleie mischt, den fressen die Säu. Sau bleibt Sau, auch wenn sie in der Chaise gefahren wird.“


VON GERINGEN LEUTEN

Die kleinen „Keubauern“ und die „Gaastebauern“ wurden im Dorf die „geringe Leut´“ genannt. Sie halfen den „Gäulsbauern“ übers Kalenderjahr als „Zackerleut“, Erntehelfer und Tagelöhner auf dem Feld, im Haus und im Stall. Für sie galt die Lebensweisheit: „Der kleine Mann lässt am besten die Finger weg vom Butterweck.“

Und dennoch: Die „Gäulsbauern“ und die „Gaastebauern“ waren aufeinander angewiesen: Die Gaastebauern auf die Spanndienste der Pferdebauern; die Pferdebauern waren, zusätzlich zu ihren ständig beschäftigten Knechten und Mägden, in den Zeiten der Arbeitsspitzen angewiesen auf die Familienmitglieder der „Gaastebauern“, auf die „geringe Leut“.

Im Hanauer Adressbuch von 1906 sind in Ostheim über 80 Personen mit ihren Familien als Tagelöhner verzeichnet. Das bedeutete Armut in vielen Häusern. Es gab auch noch die „Feierabendbauern“. Sie arbeiteten tagsüber in den Ostheimer Ziegeleien oder auch in Hanau. Nach Feierabend bestellten sie noch ihre kleine Landwirtschaft zu Hause.

 

VOM ZEITENWANDEL

Ungefähr zwei Dutzend selbstständige und halbselbstständige Handwerksbetriebe im Dorf arbeiteten den Landwirten zu: Schmiede, Wagner, Schreiner, Sattler, Maurer und un- oder angelernte Arbeiter als Tagelöhner.

Auch die aus landwirtschaftlichen Betrieben hervorgegangenen Feldbrand-Ziegeleien benötigten Arbeiter. Zur größten Ziegelei im Dorf wurden die Ziegeleien (Werk I und Werk II) Schütz am Ostheimer Bahnhof: die „Russefabrik“. Bis 1970 war die „Russefabrik“ der größte Arbeitgeber in Ostheim. Heute ist das Werksgelände Wohn- und Gewerbegebiet, aber auch Naherholungsgebiet.

Ziegelsteine/ Backsteine wurden und werden nicht nur in Hessen „Russesteine“ genannt. Es gibt zwei Erklärungen für den Begriff: 1.) Im Feldbrand und im Ringofen wurden die Lehm -Ton - Rohlinge mit Kohle gebrannt. Der Rückstand war Ruß, daher also Russestein.

2.) In den Napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts brachten deutsche Soldaten aus Russland besondere Brennweisen für die an der Luft getrockneten Lehm - Ton – Rohlinge mit, also vielleicht daher Russestein. Die zweite Erklärung gilt als wahrscheinlicher.

 

Mitte des 20. Jahrhunderts zählte man in Ostheim noch rund 100 landwirtschaftliche Vollerwerbsbetriebe mit jeweils 5 bis 20 Hektar Land. Dann modernisierte sich die Landwirtschaft außerordentlich rasch. Ein Grund dazu war der jahrzehntelange Investitionsstau.

Der Pferde- und Kuhbauer wurde zum Traktorbauern. Viele „Gäuls- und Kuhbauern“ konnten in den Jahren der Modernisierungsentwicklung der Landwirtschaft nicht mehr finanziell mithalten. Sie gaben ihre Betriebe auf. Sie wurden Arbeiter, Angestellte, Selbstständige aller Art und Akademiker. Durch die Aufgabe vieler bäuerlicher Betriebe wurden Ackerflächen frei. Die verbliebenen Bauern übernahmen gern die freiwerdenden Äcker, um ihre Betriebsflächen zu vergrößern. Im Jahr 2020 gibt es in Ostheim noch 6 selbstständig geführte und höchst technisierte und digitalisierte Bauernhöfe. Vor wenigen Jahrzehnten waren es noch ca. 100 Betriebe.

 

DAS HÖFESTERBEN

Ursache für den Strukturwandel auf dem Land ist das bis heute noch nicht beendete „Höfesterben“. Das Höfesterben begann in den 1950er Jahren als Folge der agrartechnischen Revolution im 20. Jahrhundert und der Industrialisierung der Landwirtschaft. Im Zuge der gemeinsamen Agrarpolitik der EU ging und geht die Zahl der kleinen Betriebe weiterhin drastisch zurück.

Auch in Zukunft werden sich die Interessen der Einzelstaaten, der Bauern, der Verbraucher und der Naturschützer nur schwer in Einklang bringen lassen. Die um Ostheim liegende und für jedermann sichtbare ausgeräumte Ackerlandschaft spricht Bände.

 

DAS HANDWERK

Mit dem Rückgang der bäuerlichen Betriebe seit den 1960er Jahren trat auch im Handwerk ein Strukturwandel ein. Das klassische Kleinhandwerk ist aus Ostheim verschwunden. Auch die Zahl der Bäcker und Metzger ist rückläufig. Mancher Handwerksbetrieb konnte sich aber halten und sein Leistungsangebot ausbauen.

Für Ostheim war von den 1920ern bis in die 1960er Jahre das Diamantschleifer-Handwerk besonders prägend. Es kam nach dem Ersten Weltkrieg von Hanau nach Ostheim. Schon 1933 gab es sechs Betriebe mit ca. 100 Beschäftigten. Die Diamantschleifer verdienten überdurchschnittlich gut. Als die Schleifereien wegen Auftragseinbrüchen schließen mussten, fanden die Diamantschleifer als hochspezialisierte Fachkräfte rasch Aufnahme in den Hanauer Großfirmen. Die letzte Ostheimer Schleiferei schloss 1968.

Von den Ostheimer Diamantschleifern Heinrich Östreich und Kurt Zinndorf wurde 1963 in einem Wettbewerb der kleinste Diamant der Welt geschliffen. Die Hessenschau des HR berichtete. Die Diamantschleiferei befand sich in der Kirchgasse 23.

Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich unser Dorf von einer landwirtschaftlich und kleinhandwerklich geprägten Struktur hin zu einer sehr diversifizierten Wirtschaft entwickelt. Es haben sich viele Betriebe des Dienstleistungssektors angesiedelt. Es gibt heute eine breite Palette von Dienstleistern im Dorf.

 

VON DER DORFKULTUR

Neben Schule und Kirche waren und sind die Träger der Dorfkultur die örtlichen Vereine. Unsere dörfliche Kultur lebte und blühte über mehr als hundert Jahre in den traditionellen Dorfgasthäusern und in ihren Veranstaltungssälen mit besonderem Flair. Beim „Kohle Jean“, in der „Mess“, beim „Kiefer“ und beim „Schütz“.

Diese Gasthäuser gibt es schon lange nicht mehr. Wohl aber haben sich viele Fotos und Anekdoten erhalten. Das Bürgerhaus als Gasthausersatz konnte die einzigartige Aura der alten Dorfgasthäuser leider nicht einfangen.

Unser Dorf wird nie sterben. Bei uns gibt es immer noch den dörflichen Zusammenhalt und auch die Anpackkultur. Das beste Beispiel sind der „Bürgerhof Ostheim“ und das „Dorfmuseum Ostheim“. Der ewige ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Wandel in der Gesellschaft von heute und morgen braucht Mitbürger zum Mitdenken, Mitgestalten und Mitmachen. In der Stadt. Auf dem Land. Im Dorf. In Ostheim.

 

AUSZÜGE AUS DEM ARBEITSTAGE – ABRECHNUNGSHEFT EINES OSTHEIMER TAGELÖHNERS

1948 - 1954

Sein Name ist unbekannt. Er hatte für die Landwirte Brodt, Wörner und Altvater gearbeitet. Seine Tätigkeiten über das Arbeitsjahr werden hier dokumentiert, wie er sie in seinem Abrechnungsheft formulierte. Die Bilder zu den Arbeiten stammen aus dem Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Ostheim.

 

ARBEITSTAGE FÜR BRODT

von Januar 1948 bis November 1948

Besen gemacht, Kartoffeln ausgelesen, Säcke geflickt, Kartoffel gesteckt, Dickwurz gehackt, Flachs gehackt, Zuckerrüben gehackt, Kartoffeln gehackt, Dickwurz gesetzt, Heu gemacht, Flachs gerobt, Gewaschen, Kartoffeln ausgemacht, Korn abgemacht, Weizen abgemacht, Hafer abgemacht, Weizen geladen, Hafer abgeladen, Kartoffeln ausgemacht, Säcke geflickt, Dickwurz ausgemacht, Zuckerrüben geladen, Stück gegraben, Weizen geeht (geeggt).

 

WEITERE ARBEITEN FÜR BRODT, WÖRNER UND ALTVATER

3 mtr. Holz geholt, zwei Wagen Mist gefahren, Weizen gewalzt, Korn maschint, 10 ar gezackert, beim Schlachten geholfen, Kartoffeln geschnitten, Kartoffeln gesteckt, Heu gemacht, Kleeheu gemacht, Gerste abgemacht, Roggen abgemacht, Weizen eingefahren, Kartoffeln ausgemacht und eingeladen, Latwerg gekocht, Weizen maschint, drei Fass Jauche gefahren, Kartoffeln ausgelesen, Torpfosten aufgestellt, Wasserleitung gelegt, Waschküche gemacht, Waschküche und Stallung abgeweißt, Mist gesträut, Krummet gemacht, Schwein gekauft, beim Schlachten geholfen, Gebunde aufgestellt.

 

VOM LEBEN EINER SOZIAL SCHWACHEN FAMILIE 1928

Der letzte Bürgermeister der selbstständigen Gemeinde Ostheim war Hans Östreich (1929 – 2004).

Seine Amtszeit dauerte von 1971 bis 1974. 1974 wurde Ostheim durch das Hessische Gebietsreformgesetz in die Stadt Nidderau eingegliedert. Hans Östreich wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

In seinen Erinnerungen schreibt Hans Östreich über das Leben in seiner Kindheit. Sein Vater war Ziegeleiarbeiter in Bruchköbel:

„Als sicherlich eine der sozial schwächsten Familien unseres Dorfes wurde uns 1928 im neu erbauten Gemeindewohnhaus in der Kirchgasse 41 eine der vier drei Zimmerwohnungen zugesprochen… Irgendwie waren wir stolz, jetzt zwei Stuben, eine Küche und einen abgeschlossenen Vorplatz zu haben. Einen Kellerraum und einen kleinen Stall hatten wir außerdem. Die monatliche Miete betrug seinerzeit 18 Reichsmark…

Im Stall wurden alljährlich ein Schlachtschwein und ein paar Gänse großgezogen, eine Ziege und eine Anzahl Stallhasen gehalten. Kein Gramm Futter wurde gekauft, weil sich dafür einfach kein Geld erübrigen ließ. Die Parole und die Devise war von den Eltern ausgegeben: Wenn ihr essen wollt, dann müsst ihr etwas dafür tun! So wurden von uns Kindern auf den Äckern Ähren gelesen, Äpfel gelesen, Kartoffeln gelesen, Ochsenbüsche (Löwenzahn) an Feldwegen gestochen und im Wald an den von der Gemeinde bestimmten Lesetagen Brennholz gesammelt. Das einzige, was sich im Keller befand und wofür Geld ausgegeben werden musste, waren ein paar Zentner Kohle und Brikett.“

 

Quellen:

  • Ostheim – Ein Dorf im Wandel der Zeit/Bilder aus 100 Jahren,
  • Heimat- und Geschichtsverein Ostheim, 2. ergänzte Auflage 2016
  • Gerhard Henkel, Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist, 2016 dtv
  • Hans Friebertshäuser, Ländlicher Raum im Wandel/Mundart und Dorfleben in
  • Hessen, 1. Auflage 1993, Insel Verlag Frankfurt, die Hessenbibliothek
  • Hans Östreich, Erinnerungen, Ostheim 1986/87
  • Chronik Ostheim 2000, herausgegeben von der Stadt Nidderau als Band 9 in der Reihe „Nidderauer Hefte“