Die Entwicklung im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Die Entwicklung im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verändern sich die Strukturen der Ackerbürgerstadt Windecken und der vier Gemeinden Eichen, Erbstadt, Heldenbergen und Ostheim nachhaltig. Sind es bisher die Landwirtschaft und das Handwerk, die das Leben bestimmen, so ist es jetzt die schnelle Industrialisierung des Rhein-Main-Gebietes, die den Wandel einleitet. An örtlichen Betrieben zu nennen sind vor allem die Ziegeleien und die Diamantschleifereien in Ostheim.

Noch im 19. Jahrhundert beschleunigt der Anschluss an das Schienennetz der Eisenbahn ab 1878 die ökonomische Entwicklung in den fünf Stadtteilen. Eichen wird 1905 an das Bahnnetz angeschlossen. Der wirtschaftliche Aufschwung vor dem Ersten Weltkrieg benötigt die Arbeitskräfte aus der Wetterau. Das Ende des Ersten Weltkrieges bringt Not und Tod über die fünf Kommunen. Die Weimarer Zeit bringt mit der Elektrifizierung trotz wirtschaftlicher Not manche Annehmlichkeit mit sich. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 macht auch hier nicht Halt. Die jahrhundertealten jüdischen Gemeinden in Heldenbergen, Ostheim und Windecken werden in den Novemberpogromen 1938 vernichtet, ihre Synagogen in Heldenbergen und in Windecken werden zerstört, die Kultgeräte entweiht und die Friedhöfe verwüstet. Ehemals angesehene jüdische Mitbürger werden verhaftet, wer nicht in das Ausland flüchten kann, wird in die Vernichtungslager deportiert. Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Hitlers Politik zieht unvorstellbares Leid in vielen Familien nach sich. Am Ende der Gewaltherrschaft steht die Niederlage der Diktatur. In den letzten Kriegstagen des Dritten Reichs, Ende März 1945, werden die fünf Kommunen durch amerikanische Soldaten besetzt. Flüchtlinge aus den kriegszerstörten Städten des Rhein-Main-Gebietes suchen und finden hier Zuflucht. Heimatvertriebene werden integriert und gründen eine neue Heimat.

Dies führt in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer starken Bautätigkeit in allen Gemeinden. Die Ausweisung als Siedlungsschwerpunkt durch die Regionale Planungsgemeinschaft Untermain (RPU) bedingt den Zusammenschluss der Stadt Windecken mit der Gemeinde Heldenbergen am 1. Januar 1970 zur Stadt Nidderau. Am 1. Januar 1972 gliedern sich die bis dahin selbständigen Gemeinden Erbstadt und Eichen an. Im Juli 1974 wird mit dem Anschluss der Gemeinde Ostheim an die Stadt Nidderau die Reform vollendet.

Der Bau von Bürgerhäusern und die Ausweisung von Bau- und Industriegebieten bestimmen in den nächsten Jahren die Stadtpolitik. Ein wichtiges identitätsstiftendes Moment bildet die Ausrichtung der Stadtteilfeiern. Die Aufarbeitung der Vernichtung der jüdischen Gemeinden und die Einladung der Stadt an die ehemaligen noch lebenden jüdischen Mitbürger im Sommer 1988 sowie der Empfang ehemaliger Zwangsarbeiter im Juli 2004 verdienen besondere Erwähnung in der Geschichte der noch jungen Stadt.

Die inzwischen über 40 Jahre alte Stadt Nidderau präsentiert sich heute als wachstumstarkes Unterzentrum im Main-Kinzig-Kreis.


Zur Entstehungsgeschichte der Stadt Nidderau -Wie und warum es vor 40 Jahren dazu kam.

Von Helmut Brück (*

Beginn der lokalen Aktivitäten 1967 bis 1969

Am 9.3.1967 richtet Landrat Schubert von Hanau ein Schreiben an Bürgermeister Salzmann von Windecken mit dem Vermerk Persönlich. Er bezieht sich auf einen Brief der Regionalen Planungsgemeinschaft Untermain wegen einer Zusammenfassung der Gemeinden Windecken und Heldenbergen. Das kurz gefasste Schreiben des Landrats endet: Ich darf bitten, die Angelegenheit genauestens zu überlegen und zunächst in der Öffentlichkeit möglichst davon nichts verlauten zu lassen. Vielleicht geben Sie mir nach einiger Zeit einmal Ihre Meinung zu der Anregung der Planungsgemeinschaft bekannt. Aus einem von Bürgermeister Salzmann am 29. Juni 1967 gefertigten verwaltungsinternen Aktenvermerk geht hervor: Am 28.6.1967 fand bei der Planungsregion Untermain mit Herrn Geschäftsführer Sander eine Besprechung über die Möglichkeiten der Zusammenlegung von Heldenbergen und Windecken statt. An dieser Besprechung hat auch Bgm. Reuter aus Heldenbergen teilgenommen. Herrn Sander wurde von beiden Bgm. erklärt, daß man der Wortmann’schen Planung sowohl in Heldenbergen als auch in Windecken aufgeschlossen gegenüber steht. ... Herr Sander war der Meinung, daß es gelten würde zwischen den beiden Körperschaften der Gemeinde Fühlungnahmen bezw.[=bezüglich] der Zusammenlegung aufzunehmen. Dies könnte am günstigsten dadurch entstehen, dass man versuchen sollte eine gemeinsame Planung (Flächennutzungsplan) nach BBauG § 4 zu betreiben und einen Planungsverband zu bilden. Bezüglich eines Zusammenschlußes war man der Meinung, daß nun ein Weg ‚der kleinen Schritte’ gegangen werden könnte. Gemeinsame Verwaltungseinrichtungen könnten den Anfang bilden ... Am 3.7.67 schreibt Sander (RPU) an die Bürgermeister von Heldenbergen und Windecken: Wie Sie wissen, hat der Entwurf für einen regionalen Raumordnungsplan, der von Herrn Prof. Wortmann erstellt worden ist, für die Stadt Windecken und die Gemeinde Heldenbergen eine Konzentration der künftigen Siedlungsfläche und ein allmähliches Zusammenwachsen der beiden Gemeinden vorgesehen. Der Vorschlag geht auch davon aus, daß die beiden Gemeinden eine verstärkte Förderung mit der Wirkung einer strukturellen Verbesserung der umliegenden Gemeinden durch eine Anordnung zusätzlicher zentralörtlicher Einrichtungen erhalten sollen. ... Diese planerische gemeinsame Behandlung der anstehenden Probleme sollte ganz unabhängig von der Frage einer möglichen kommunalpolitischen Vereinigung beider Gemeinden gesehen werden. Ob diese und zu welchem Zeitpunkt ein solcher Zusammenschluß beider Gemeinden möglich ist, kann durchaus später entscheiden werden, wenn die Zeit dafür reif ist ...

Anregung durch die „Planungsgemeinschaft“

Wie aus dem vorerwähnten Schreiben des Landrats Schubert vom 9.3.1967 hervorgeht, handelt es sich offensichtlich um ein Anliegen, das von der Planungsgemeinschaft Untermain initiiert ist. Die Angelegenheit erscheint als eine solche, die von überörtlichen Stellen, über die Landräte Hanaus und Friedbergs vermittelt, auf die kommunale Ebene transportiert und schmackhaft gemacht werden soll. Aus den Akten im Stadtarchiv wird aber auch deutlich, dass die Bürgermeister Salzmann und Reuter sehr schnell nachhaltiges Interesse an der Weiterverfolgung der Angelegenheit signalisieren. Die Saat ist dem Anschein nach von Anfang an auf fruchtbaren Boden gefallen. Es scheint fast so, als sei nach erstmaliger Ansprache des Themas „Gemeinden-Zusammenlegung“ nur noch ein Problem zu lösen: Wie bringen wir es den Betroffenen, den städtischen Beschlussgremien, vor allem aber der Bürgerschaft in Windecken und Heldenbergen bei? Wie allerdings aus der den Hintergrund beleuchtenden, für meine Untersuchung insgesamt sehr bedeutsamen Rede Willi Salzmanns vom 1.1.1970 [Anhang I] hervorgeht, war schon einige Zeit früher in einer Bürgermeister-Dienstversammlung die Grundkonzeption des „Wortmannplanes“, gerade am Beispiel Heldenbergen-Windecken vorgestellt worden und damit den beiden Bürgermeistern wohlbekannt. Natürlich wird auf dem dann fast dreijährigen „Weg der kleinen Schritte“ das „Jahrhundertprojekt“ von den Gemeindevorständen immer wieder sehr dezidiert geprüft und bis zum Ende des Vorlaufs ergebnisoffen verfolgt. In den kommenden, fast drei Jahren wechseln in der Tat euphorische Phasen mit schlichter Untätigkeit der Fachbehörden. Ende Oktober 1967 legt der Gemeindevorstand von Heldenbergen und der Magistrat der Stadt Windecken dem Kreisausschuss der Kreise Hanau und Friedberg sowie der Geschäftsstelle der Region Untermain eine gemeinschaftliche schriftlich gefasste Entschließung vor: Die Körperschaften der Gemeinde Heldenbergen und der Stadt Windecken haben am 18. Oktober 1967 gemeinsam die Ausweisung der beiden Gemeinden Heldenbergen und Windecken als ‚Zentraler Ort in der Land- und Forstwirtschaftszone’ beraten. Es wurde festgestellt, daß Möglichkeiten zur gemeinsamen Planung gegeben sind. Als erste gemeinsame Einrichtung soll eine Gruppenkläranlage errichtet werden. Die beiden Gemeinden begrüßen daher die im Wortmannplan empfohlene Konzeption und sind bereit, einen Planungsverband nach § 4 BBauG zu bilden und die Ziele des Wortmannplanes anzustreben. ...

Nach mehr als einem Jahr des Zuwartens entsteht unter den örtlichen, veränderungswilligen Funktionsträgern schließlich regelrechte Ungeduld. Am 4. Dezember 1968 treffen sich deshalb der Magistrat der Stadt Windecken und der Gemeindevorstand Heldenbergen zu einem Gespräch in der Mittelpunktschule Heldenbergen. Es wird festgestellt, am 18. Oktober 1967 haben die beiden Gemeinden Heldenbergen und Windecken in einer Entschließung den Willen zur Zusammenarbeit bekundet. Die Entschließung sei den Aufsichtsbehörden zugeleitet worden, seit dieser Zeit sei nichts geschehen. Insbesondere bei der Schulplanung des Landkreises Hanau habe es sich gezeigt, dass es notwendig sei, eine klare Aussage über den Zusammenschluss der beiden Gemeinden zu machen. Der Magistrat der Stadt Windecken sei daher der Meinung, dass man seitens der beiden Kommunen nunmehr die Initiative ergreifen müsse und deshalb versuchen wolle, den Zusammenschluss vorzubereiten. Da bis zur Verwirklichung des Zusammenschlusses eine Vielzahl von Fragen zu klären seien, wird von den Gesprächsteilnehmern zu diesem Zweck eine Kommission gebildet. Ihr gehören die Bürgermeister beider Gemeinden, je zwei Mitglieder der Gemeindevorstände und je ein Verwaltungsangestellter an. Die Kommission soll alle Fragen, die sich aus dem Zusammenschluss der beiden Gemeinden ergeben, zusammenstellen und in einem Exposé niederlegen. Es ist beabsichtigt, die Erkenntnisse zunächst in den beiden Gemeindevorständen zu erörtern. Bei Einigkeit sollen dann die Gemeindevertretungen und auch die Bevölkerung unterrichtet werden.

Die Kommission, die mit Beginn des Jahres 1969 hoch motiviert ihre Arbeit aufnimmt, steht nun unter starkem Zeitdruck, denn als Fusionsdatum ist der 1.1.1970 festgelegt und außerordentliche Finanzhilfen in bedeutender Größenordnung sind nur für den Fall des rechtswirksamen Zusammenschlusses bis spätestens zum 1.1.1970 zugesagt. Die strukturelle Ausgangslage im Jahre 1969:


Stadt WindeckenGemeinde Heldenbergen
Einwohner3206 
3206 
davon kath. 
537   
1780
davon ev.    
 2615
789
sonstige  
54 
17
Gemarkung 
610 ha
907 ha
Stadtverordvers. / Gemeindevertr. 
10 SPD, 5 FWG  
8 SPD, 5 CDU
BürgermeisterSalzmann gewählt bis       25.11.1978  
Reuter gewählt bis      31.12.1972
Schulden:
1,6 Mio. DM 
3,2 Mio. DM

Die von der Vorbereitungskommission alsbald erstellte seitenstarke Arbeitsunterlage zur Vorbereitung des Gemeindezusammenschlusses enthält fein säuberlich aufgelistet und synoptisch gegenübergestellt, praktisch alle damals für verhandlungswichtig erachteten Fakten: Zukünftige Kreiszugehörigkeit, Schulden, Vermögen, Versorgungsunternehmen, Bedienstete, Stadtrechte, Namensgebung. Zu allen aufgeführten Sachverhalten sind in dem Papier detaillierte Vorschläge für die Regelung nach der Fusion entwickelt worden, wie zum Beispiel:

  • Die Gemeinden geben sich einen neuen Namen, wobei als Untername die Bezeichnung Ortsteil Windecken bzw. Heldenbergen erhalten bleiben soll.
  • Der neuen Gemeinde sollen die Stadtrechte erhalten bleiben
  • Die Gemeinde gehört dem Landkreis Hanau an.
  • Die beiden hauptamtlichen Bürgermeister bleiben als Bürgermeister und hauptamtlicher Stadtrat auf die Dauer ihrer Wahlzeit im Dienst der neuen Gemeinde. Bei Bewährung soll dieses Verhältnis beibehalten werden.
  • Die beiden derzeitigen Gemeinden bilden je einen Ortsbezirk nach § 81 HGO. Ein Ortsbeirat nach § 82 HGO ist zu wählen...In der Abschlussbetrachtung des Verwaltungsentwurfs ist viel sagend ausgeführt: ...Bezüglich des Vermögens und der Schulden ist nur eine Übernahme des vorhandenen Bestandes durch die neue Gemeinde denkbar... Die persönlichen Dienstverhältnisse sind [im Auseinandersetzungsvertrag] zu regeln... Vorher ist die Bevölkerung in ausreichendem Maße über den geplanten Zusammenschluss zu informieren. Sobald dem Zusammenschluß keine Hinderungsgründe mehr im Wege stehen, ist im Rahmen eines Flächennutzungsplanes ein Bebauungsplan für das Gebiet zwischen der Stadt Windecken und der Gemeinde Heldenbergen westlich und östlich der Bundesstraße 45 aufzustellen. Die Kosten für einen städtebaulichen Wettbewerb sollten nicht gescheut werden, um eine optimale Lösung zu erhalten. Besonders muß dabei auf die Ausweisung eines Gemeindezentrums geachtet werden. Dieses Zentrum soll aufnehmen: a) Verwaltungsgebäude, b) Hallenschwimmbad c) Gesamtschule d) Kindergarten e) Bürgerhaus und f) Sportanlagen... Die aufgeführten Bemühungen werden nicht nur in Verfolgung des Regionalplanes unternommen, sondern es gilt eine echte Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Bevölkerung durch neue sportliche, kulturelle und gewerbliche Einrichtungen zu erreichen. Eine leistungsfähige Verwaltung mit rationellen Arbeitsmethoden soll diese Ziele ‚zum Wohle der Bürger’ der Gemeinden Windecken und Heldenbergen verwirklichen. Diese essentiellen Regelungsvorschläge der Kommission finden sich schließlich, teilweise in abgeänderter Form, in dem von den Kommunalverwaltungen vorbereiteten Entwurf eines Auseinandersetzungsvertrages wieder.   Die Beweggründe zum Zusammenschluss der beiden selbstständigen Gemeinden Heldenbergen und Windecken bringt Bernd Reuter 40 Jahre später auf folgenden Nenner:  

Die Vision von einer explosionsartigen Bevölkerungsentwicklung
Die fusionsbezogenen lokalen Ereignisse des Jahres 1969 sind in zahlreichen, sehr ausführlichen Zeitungsberichten des Hanauer Anzeigers, [z.B. am 5.3.69, 20.3.69, 31.5.69, 30.6.69, 28.10.69, 1.11.69, 2.1.1970] sehr instruktiv und anschaulich nachzulesen. Zwar nicht durch ein Redaktionskürzel als solche erkenntlich, dürften die Berichte aber gleichwohl allesamt aus der Feder des Windecker Lokalreporters Rolf Hohmann+ stammen. Er erweist sich stets als sehr gut informiert, liefert sowohl die Fakten als auch viele Hintergründe; z.B. welche Rolle die Standortdiskussion Gesamtschule und Mittelpunkt-Schwimmbad spielt. Er thematisiert auch die Verschuldung der Gemeinden, das Problem Nutzungsberechtigte Bürger Windecken, die Riesendiskussion um die Namensfindung für die neue Plangemeinde. Da Hohmann über alle wesentlichen Ereignisse schreibt, ist auch der Umkehrschluss zulässig: Was nicht in der Zeitung steht, war damals offensichtlich auch kein Thema, wie z. B. einkehrende Angst vor Entfremdung, Verlust von Bürgernähe der Verwaltung, signifikant höhere Personal- u. Sachkosten einer zukünftig professionalisierten, unter Umständen sogar „aufgeblähten“ Stadtverwaltung.

  • deutlich höhere Schlüsselzuweisungen,
  • die potenziellen Gewerbeflächen lagen überwiegend in der Gemarkung Heldenbergen

und betont, dass ohne die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister von Windecken, Willi Salzmann, der Zusammenschluss so nicht geklappt hätte [siehe Anhang II]. Reuter berichtet [telefonisch am 6.10.2010] dem Verfasser hierzu sinngemäß noch folgendes: Willi Salzmann war ein sehr gebildeter, berufserfahrener, charismatischer Verwaltungsfachmann, persönlich eher taktierend, abwartend und vorsichtig. Das „Eis zwischen ihm und mir“ war erst gebrochen, als ich ihn im Windecker Rathaus besuchte, mich vorstellte und in dem Gespräch schließlich erwähnte, dass ich nicht darauf bestünde, nach der Fusion Bürgermeister zu werden oder zu bleiben. Die Rückkehr als junger Bau-Ingenieur zur Philipp Holzmann AG bliebe mir als ernsthafte Option bewusst und gut vorstellbar. Jetzt erst redete Salzmann, dem offenbar eine zentnerschwere Last von der Seele gefallen war, zum ersten Mal, plötzlich freundschaftlich-kollegial mit mir ganz offen über den Zusammenschluss.

Für die Gemeinden Heldenbergen und Windecken führte die Tatsache der gemeinsamen Einstufung als Siedlungsschwerpunkt zu neuen, kühnen Überlegungen... So drückt es der alte und neue Bürgermeister Willi Salzmann in einer im Auftrag der Stadt Nidderau von der Regionalen Planungsgemeinschaft Untermain 1971 publizierten Broschüre aus. Er erläutert, warum es eine Gemeindezusammenlegung an Stelle der ursprünglich in Augenschein genommenen Planungsgemeinschaft gegeben hat, indem er schreibt: Die Bildung eines Planungsverbandes hätte zur Aufgabe der Selbstständigkeit beider Gemeinden [nur] im Bereich der Planung geführt. Schwierige Situationen hätten sich [dann] in der Verteilung der Steuern ergeben können, weil die Planung von Wohn- und Gewerbegebieten nicht gleichmäßig auf beide Gemeinden hätte verteilt werden können.

Bernd Reuter, inzwischen Nidderaus Erster Stadtrat, verheißt Nidderau an einer anderen Stelle des Druckwerkes eine spektakuläre Zukunftsentwicklung, indem er schreibt: Die verantwortlichen Kommunalpolitiker Nidderaus sind der Auffassung, daß mit den bisher eingeleiteten Maßnahmen die Entwicklung Nidderaus zu einer Mittelstadt von rd. 40 000 [!] Einwohnern kontinuierlich weitergeführt werden kann.

Der dann von der jungen Stadt 1970/71 durchgeführte Städtebauliche Wettbewerb erbringt im Ergebnis Entwürfe, in denen mehrere renommierte Stadtplanungs- und Architekturteams eine Gesamtbesiedelung von sogar bis zu 70.000 (!) Einwohnern in Nidderau vorschlagen. Die erforderlichen Baugebiete hierfür werden problemlos in dreidimensional gefertigten Modellen, eindrucksvoll visualisiert, großräumig oberhalb und unterhalb des Bahnhofs Heldenbergen-Windecken planerisch verortet.

Die Rolle der kommunalpolitischen Opposition

Hinweise aus der Verwaltungsakte sind insoweit nur sehr spärlich. Immerhin schreibt unter seiner privaten Anschrift Georg Franz (sen.+) in einem Brief, datierend 21.10.1969, an Gemeindevorstand und Gemeindevertretung in Heldenbergen: ... In dem Nachrichtenblatt vom 17.10.1969 wird die Bevölkerung gebeten, einen Vorschlag für den neuen Ortsnamen einzureichen. Wenn schon eine Volksbefragung durchgeführt wird, warum fragt man nicht die Bevölkerung, ob sie überhaupt mit dem Zusammenschluß mit Windecken einverstanden ist? Das wäre doch viel wichtiger, zumal er sich m. E. für Heldenbergen sehr ungünstig auswirkt. Warum bringen Sie den Mut hierzu nicht auf? Ist es nicht eine Verhöhnung der Heldenberger Bevölkerung, wenn in der Arbeitsunterlage geschrieben wird, das solle alles zum Wohle der Bürger der beiden Gemeinden geschehen und dann den Heldenberger zumutet, daß sie die hohen Schulden von Windecken mitbezahlen helfen?...

In der Sitzung der Gemeindevertretung Heldenbergen am 31. Oktober 1969 sowie zeitgleich in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Windecken wird der erarbeitete Entwurf des Auseinandersetzungsvertrages jeweils einstimmig angenommen. In der Niederschrift über die Stadtverordnetenversammlung ist vermerkt: Nach Verlesen des in einigen Paragraphen abgeänderten Auseinandersetzungsvertrages erklärte die S.P.D. Fraktion, daß sie hierin einen Fortschritt und eine wesentliche Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Einwohner der neuen Großgemeinde sehe. Die F.W.G. erklärte, daß sie ebenfalls der Fusion von Anfang an positiv gegenüberstand und wünscht, daß der heute zu fassende Beschluß zum Wohle der Bevölkerung beider Gemeinden dienen möge.

Auch das Ergebnis der Kommunalwahlen am 08. März 1970 gilt als Nagelprobe für die freiwillige Fusion:

Nidderau

Wahlbeteiligung: 84,43 %

SPD 1.884 Stimmen (58,95 %)

CDU 959 Stimmen (30,00 %)

FWG 353 Stimmen (11,05 %)

Vorläufige Sitzverteilung: SPD 11 Sitze, CDU 6 Sitze, FWG 2 Sitze. Da die SPD die absolute Mehrheit erhält, wird das Wahlergebnis als Bestätigung der vorausgegangenen Fusionspolitik betrachtet.

Zum Schluss:

Heute zeigt sich, dass die damalige Entscheidung für eine Fusion nur das vorweggenommen hat, was sich durch die Ballungsgebietsrandlage Rhein/Main ohnehin ereignet hätte: Der Siedlungsdruck wäre nicht zu verhindern gewesen. Nur hätte dieser viel weniger Rücksicht auf städteplanerische Kriterien genommen. Wären wir damit glücklicher geworden?

(* Kurzfassung einer ausführlicheren Abhandlung des Autors in „Nidderauer Heft Nr. 13“, S. 3ff.