Vor- und Frühgeschichte der Nidderauer Gemarkung


Neufunde, meist bedingt durch die rege Bautätigkeit der letzten Jahrzehnte, verändern und bereichern das von Wolff gezeichnete Bild erheblich. Insbesondere die großflächigen Untersuchungen im Bereich der Neubaugebiete Allee Süd und der Neuen Mitte sowie die Maßnahmen der hessenArchäologie auf der Trasse der Ortsumgehung Heldenbergen-Windecken haben wesentliche neue Erkenntnisse gebracht, die regelmäßig in den Jahrbüchern der hessenArchäologie veröffentlicht wurden.

Der Nidderauer Boden birgt noch immer bisher unbekannte Zeugnisse aus der Vergangenheit. Die Altfunde der Gemarkung waren je nach Verwaltungszugehörigkeit der einzelnen Ortsteile entweder im Museum Hanau oder im Museum Friedberg verwahrt. Während die meisten Gegenstände im Museum Hanau dem zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, blieben die Friedberger Inventare weitgehend erhalten. Einige Grabfunde aus Eichen gelangten in Museen in Mainz und Gießen. Nach 1945 geborgene und gesammelte kleinere Fundbestände gelangten erneut in das Hanauer Museum, einige befinden sich in Privatbesitz, andere wiederum erscheinen spurlos verschwunden.

Seit 1990 gibt es in der Stadt Nidderau eine wissenschaftlich betreute archäologische Sammlung. Dort werden archäologische Funde, die bis zur Neufassung des sog. „Schatzregals“ 2016 – d.h. Funde gehen in das Eigentum des Landes Hessen über - auf Nidderauer Gemarkung ausgegraben wurden, aufbewahrt. Eine repräsentative Auswahl ist in der Archäologischen Schausammlung auf dem Mittelburggelände in Heldenbergen zu sehen und zum Teil im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Die Sammlung, unter der Verwaltung des VVFN e.V. steht seit 2025 unter dem Motto „Mehr als ein Museum“ und ist auf Anfrage zugänglich (kontakt.vvfn@gmail.com).

Darüber hinaus liefern das Städtische Museum im Hospital in Windecken (Verwaltung Heimatfreunde Windecken e.V.) sowie das Ostheimer Dorfmuseum im Bürgerhof Ostheim (Verwaltung Heimat- und Geschichtsverein Ostheim e.V.) Einblicke in die Geschichte Nidderaus.

Infotafeln weisen an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet auf die Hinterlassenschaften aus vor- und frühgeschichtlicher Zeit hin.

Alt- und Mittelsteinzeit

Die lange Epoche der Alt- und Mittelsteinzeit (600.000 - 5.500 v. Chr.) liegt nach wie vor im Dunkeln. Mutmaßliche Quarzit-Artefakte, z.B. von den Nidder-Terrassen gegenüber Eichen, sind nicht genauer untersucht; ähnliches gilt für leider verschollene Altfunde vom Gelände der ehemaligen Ziegelei Ostheim.

Jungsteinzeit

Menschen, die vorher als Jäger- und Sammler umhergezogen waren, ließen sich in der südlichen Wetterau auf den fruchtbaren Lössböden nieder. Erst lange nach der Eiszeit beginnt mit der Jungsteinzeit (5.500 – 2.000 v. Chr.) eine flächige Besiedlung der Region. Es entstehen Dorfanlagen mit festen Häusern und die heutige Landwirtschaft nimmt mit Viehzucht und dem Anbau von Kulturpflanzen ihren Anfang. Aus dem Alltag jener Zeit sind vor allem Tongefäße und Steingeräte, dabei geschliffenes Werkzeug, durch Ausgrabungen gesichert. Durch Oberflächenfunde und Ausgrabungen sind zahlreiche jungsteinzeitliche Siedlungen bekannt.

Zu den ältesten dieser Siedlungen zählt eine Fundstelle westlich von Ostheim, deren archäologische Untersuchung durch Bauarbeiten notwendig wurde. Zwei Grabungskampagnen in den 1990er Jahren erbrachten nicht nur zahlreiche Fundgegenstände der sog. Ältesten Bandkeramik, dabei ein Idol eines Frauenköpfchens, sie erlaubten auch die Beobachtung und Dokumentation von vier Hausgrundrissen mit Pfostenstellungen und Wandgräbchen, überschnitten von Gruben jüngerer Kulturen.

Bronzestatur eines Kopfes
Ostheimer Köpfchen

Die archäologische Untersuchung des Baugebietes Allee Süd I, Windecken, lieferte eine Fülle bandkeramischer Funde einer jüngeren Phase, jedoch keine Hausgrundrisse. Im Gewerbegebiet Lindenbäumchen, Heldenbergen, fanden sich weitflächig verteilt Gruben, Hausgrundrisse und Kreisgräben dieser jüngeren Bandkeramik. Im Bereich der Neuen Mitte konnte der, zu etwa zwei Dritteln erhaltene, Grundriss eines bandkeramischen Langhauses besonders sorgfältig dokumentiert werden. Er dient als Bauplan für die Rekonstruktion eines solchen Gebäudes im Windecker Hexenturmgarten.

Nachgebautes Haus aus der Steinzeit
Rekonstruktion LBK-Haus Hexenturmgarten

Gleichfalls im Gewerbegebiet Lindenbäumchen wurde im Frühjahr 2000 eine Siedlungsstelle der jungsteinzeitlichen Rössener Kultur entdeckt und untersucht. Es ist die erste Fundstelle dieser Kultur im unteren Niddertal, die ausgegraben werden konnte. Lesefunde aus Ostheim weisen auf Angehörige der Großgartacher Kultur hin.

Ausgrabungsstücke
Rössener Ensemble - Silex und Klopfstein

Im Bereich der Neuen Mitte und im unmittelbaren Umfeld kamen seit 1989 Befunde und Fundgut der in unserer Region seltenen Bischheimer Kultur zu Tage.

Keramikstücke
Bischheimer Keramik

Am Ende der Jungsteinzeit scheint es einen Bevölkerungsrückgang zu geben. Andernorts ist nachweisbar, dass die Menschen der Kupferzeit die Höhenlagen für ihre Siedlungen bevorzugten. Allerdings ist es möglich, dass die Siedlungen der Kupfer- und Bronzezeit ab dem Mittelalter unbemerkt überbaut wurden. Ab und an treten beim Abriss alter Gebäude, z.B. in Heldenbergen archäologische Funde aus den älteren Metallzeiten zu Tage.

Der als „Niddi“ bezeichnete Fund eines im Alter von 14 Jahren zu Tode gekommenen Menschen unbestimmten Geschlechts, der der spätkupferzeitlichen Glockenbecherkultur (um 2.300 v. Chr.) zugewiesen werden kann und im Bereich der Allee Süd zu Tage kam, fand nach seiner Auffindung als „ältester Nidderauer“ Eingang in die lokale Presse. Einzelne weitere Grabfunde ähnlicher Zeitstellung sind inzwischen z.B. vom Bereich der Ortsumgehung in der Nähe des Gewerbegebiets Heldenbergen nachgewiesen. Seit 2009 handelt es sich bei „Niddi“ nicht mehr um das älteste erhaltene menschliche Skelett von Nidderauer Gemarkung. Im Neubaugebiet Allee Süd IV wurde ein Hockergrab aufgefunden und dokumentiert, das aus der Zeit der Schnurkeramiker (um 2.500 v. Chr.) stammt. Die Besonderheit, dass sich der Kopf des Toten im Bereich des Beckens fand und die Fußknochen fehlten, legt die Assoziation nahe, dass hier ein „Schamane“ bestattet wurde, der nicht wiederkehren sollte.

Menschenknochen
"Niddi"
Knochenfund
Schamane

Bronzezeit

Aus der mittleren Bronzezeit (1.500 – 1.200 v. Chr.) ist vor allem eine Siedlung mit Töpferofen benachbart der Oberburg in Heldenbergen zu nennen. Die Ausgrabungen wurden vom Geschichtsverein Hanau durchgeführt.

Steinkistengräber der Spätbronzezeit (1.200 – 800 v. Chr.) sollen alten Publikationen zufolge bereits 1873 in der Heldenberger Flur „Gänshohl“ gefunden worden sein, weitere bei Erdarbeiten 1905 an der Grenze zu Windecken. Letztere können zu einer Siedlung gehören, die unter dem Arkadenhof und dem neuen Rathaus lag. Neben Scherben feinster Gefäße fanden sich eine Bronzenadel, eine Lanzenspitze aus Bronze und Werkzeug aus Hirschhorn und Knochen, sowie Hinweise auf eine Töpferwerkstatt. Zudem kam auf der Neuen Mitte, gegenüber des Rathauses ein „Grubenhaus“ zum Vorschein, das mit Sitznischen ausgestattet, und ehemals überdacht, aufgrund der daraus geborgenen Funde als Handwerkerhaus zur Herstellung von Bronzegegenständen gedeutet werden kann. Der Nachweis von Siedlungsstrukturen im Ausmaß derer aus der Zeit der Bandkeramiker fehlt. Entweder machten sich die Menschen erst nach und nach wieder auf der Nidderauer Gemarkung sesshaft oder ihre Hinterlassenschaften zeichnen sich nicht deutlich ab, wurden unbeobachtet zerstört oder bisher nicht gefunden.

Lanzenspitze
Lanzenspitze

Eisenzeit

Eine proto- oder frühkeltische Siedlung der sog. Hallstattkultur (800 – 450 v. Chr.) erstreckt sich vom neuen Rathaus nach Norden wohl bis zur Bertha-von-Suttner-Schule. Siedlungen aus dieser Zeit sind auch von Allee Süd I und bei Erbstadt bekannt. Grabhügel in den Wäldern zwischen Eichen, Ostheim und Windecken, meist um 1900 bereits an- oder ausgegraben, enthielten zahlreiche Bestattungen jener Epoche. In den Neubaugebieten Allee Süd II bis IV und unter der Römerstation Heldenbergen weisen Grabfunde darauf hin, dass hier durch Ackerbau oder Überbauung Grabhügel zerstört wurden. Vorhanden waren Brandgräber in Urnen, aber auch einfache Brandschüttungsgräber sowie teils prunkvoll ausgestattete Körpergräber mit Keramiksätzen, Schwertern und Messern aus Eisen, sowie diversen Schmuckgegenständen. Drei der „Schwertträger“-Gräber befinden sich in der Archäologischen Schausammlung.

Vitrine mit verschiedenen Ausgrabungsstücken
"Schwertträgergrab"


Keltische, latènezeitliche Siedlungen (ab 450 v.Chr. bis zur Römerzeit) sind schwer zu fassen, Altfunde kaum überprüfbar. Siedlungsgruben oder Oberflächenfunde sind von Allee Süd I, vom Gewerbegebiet Lindenbäumchen, aus der Straubelgasse in Heldenbergen, aus Ostheim und von der Hohen Straße am Wartbaum bekannt. Besser überliefert sind Beigaben aus keltischen Gräbern mit Schmuckgegenständen, meist aus Bronze, aus Heldenbergen, von der Ortsumgehung bei Windecken und aus Ostheim. Das sogenannte Gasleitungsgrab aus Allee Süd I hat nach vielen Jahren in den Werkstätten des Landesamtes in Wiesbaden, heute HessenArchäologie den Weg zurück nach Nidderau gefunden. Der „Kelte von Hof Buchwald“ findet durch das Vorhandensein eines kleinen goldenen Ohrrings über die Grenzen Nidderaus hinweg Beachtung.

Goldener Ohrring
Gold(ohr)ring

Römische Kaiserzeit

Ab der Zeitenwende beginnt die römische Okkupation die spätkeltische/frühgermanische Besiedlung zu überlagern. Bekannt sind hier die Erdlager und die Zivilsiedlung Heldenbergen. Die Ausgrabungen erbrachten Scherben von typischen, verzierten Terra-Sigillata-Gefäßen, von Amphoren und Öllämpchen. Die Blockbergung eines noch vollständig vorhandenen Töpferofens misslang leider. Noch immer werden im umliegenden „Römerviertel“ bei Gartenarbeiten römische Hinterlassenschaften gefunden. Die römische Zivilsiedlung, die länger als das Kastell Bestand hatte, wurde vor der Mitte des 3. Jahrhunderts zerstört. Römische Gutshöfe (villae rusticae) sind aus allen Ortsteilen bekannt.

Alte Öllampe
Öllämpchen

In der Windecker Eugen-Kaiser-Straße kam bei Bauarbeiten ein Spitzgrabenprofil zu Tage, das nahelegt, dass ein Teilstück des Limes durch Nidderau führte. In Zusammenschau mit Ausgrabungen in Mittelbuchen kann ein früher Limesverlauf von Seligenstadt über Hainstadt und Hanau, der bis Oberflorstadt reichen würde postuliert werden. Damit wären auch die bekannten Erdlager von Nidderau-Heldenbergen als Limesbefestigungen erklärbar.

Ein römisches Gräberfeld ist in Heldenbergen nachgewiesen. Es wurde entlang der Römerstraße von Heldenbergen nach Karben angelegt. Es handelt sich um Brandbestattung mit Beigaben von Keramik und diversen Eisengegenständen.

Völkerwanderungszeit

Aus archäologischer Sicht ist das Vorhandensein von Menschen in der Zeit nach Abzug der römischen Bevölkerung lediglich durch einen einzelnen Grabfund des 5. Jhs. aus Eichen nachweisbar.

Stab mit Verzierungen
Dreiknopffibel

Frühmittelalter

Ab dem 6./7. Jahrhundert stoßen wir auf fränkische Besiedlung und Grabfunde mit typischen Knickwandgefäßen als Beigabe. Auf den Beitrag „Nidderau im Mittelalter“ sei an dieser Stelle verwiesen.

Alter Topf
Knickwandtopf

Gibt es eine Siedlungskontinuität?

Die Wurzeln Nidderaus liegen in der Jungsteinzeit, auch wenn eine durchgängige Besiedlung nicht eindeutig nachzuweisen ist. Während der älteren Metallzeiten entsteht eine Siedlungslücke, die es noch mit möglichen neuen Erkenntnissen zu schließen gilt. Ab der älteren Eisenzeit scheinen die Menschen die Siedlungsräume der jungsteinzeitlichen Bandkeramiker erneut aufzusuchen. Mit dem Zuzug römischer Bevölkerung kommt es zu Vermischungen mit der heimischen Bevölkerung und erneut entsteht eine Besiedlungslücke. Erst für die fränkische Zeit sind wieder archäologische Nachweise vorhanden. Ab da entwickelt sich die uns heute bekannten Besiedlung in allen Stadtteilen Nidderaus.

Jeder Stadtteil Nidderaus hat aus archäologisch-historischer Sicht seine Besonderheiten, Ostheim die älteste Besiedlung (älteste Bandkeramik mit dem „Ostheimer Köpfchen“), Eichen die keltischen Grabhügel im Wald sowie den einzigen Hinweis auf Leben in der Völkerwanderungszeit, Erbstadt römische Gutshöfe, Heldenbergen eine Siedlung der Bischheimer Kultur und die Römerlager, die für die Benennung der Straßen im „Römerviertel“ Anstoss gegeben haben. Windecken schließlich weist bedeutende eisenzeitliche Gräberfelder auf, deren Aufdeckung ein Baustein zum Beitritt der Stadt Nidderau in den Verein KeltenWelten e.V. war. Nidderau wächst kontinuierlich zusammen und nachfolgende Archäologen-Generationen werden sich über die Hinterlassenschaften der jetzigen Bewohner ihre eigenen Gedanken machen.

Überarbeitet 02/2025 Dr. Heike Lasch